Singen gegen Demenz: "Wenn nichts mehr geht, Musik geht immer"
Immer montags haben ein Dutzend Bewohnerinnen und ein Bewohner des Altenheimes Rudigierstraße der Kreuzschwestern Linz einen ganz besonderen Termin. Punkt elf Uhr werden sie von den Pflegerinnen in den Aufenthaltsraum gebracht, in dem eine Hammond-Orgel steht. Viele der betagten Damen sind älter als 90, auch eine 100-Jährige ist dabei.
Musikpädagogin Christine Kreinecker, deren Mutter hier lebt, reist jede Woche vom Traunsee an, um mit den Bewohnern eine Dreiviertelstunde das zu machen, was Menschen mit Demenz besonders mögen: Singen und Musizieren. "In Corona-Zeiten natürlich mit Maske und Schild", sagt sie und erzählt von ihrer eigenen Mutter, die hier lebt und seit Jahren an Vergesslichkeit leidet. "Aber wenn ich mit ihr singe, findet sie ihre Sprache wieder. Melodien und Texte fallen ihr plötzlich ein. Wenn nichts mehr geht, Musik geht immer", ist Christine Kreinecker überzeugt. Eine denkbare Erklärung dafür: Musikalische Erinnerungen werden im prozeduralen Gedächtnis, im Gedächtnis der Bewegung und Handlung, abgespeichert. Gefragt sind natürlich Lieder aus jener Zeit, in der die 80- bis 100-jährigen Heimbewohner jung waren.
"Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus", stimmt die Musikpädagogin ein altes Volkslied an. Und es ist spür-, fühl- und sichtbar, wie der Funken überspringt. Eine Frau wippt ein bisschen mit den Füßen, die 100-Jährige klatscht plötzlich und eine andere Dame, die mit versteinerter Miene in ihrem Rollstuhl sitzt, lächelt. Entrückt. Selig.
Je mehr Lieder gesungen werden, desto mehr wird das Lächeln, desto mehr werden die Worte, die über die Lippen kommen. Da erklingt der Schlager "Rote Lippen soll man küssen" aus dem Jahr 1963. Die Augen der Damen lächeln und wenn sie könnten, so meint man, würden sie gern aus ihren Rollstühlen aufstehen und ein Tänzchen wagen – ganz so wie früher, als sie jung waren. "Musik ist eng mit dem Leben der Menschen verknüpft", sagt Kreinecker. Lieder, Schlager und Hits, die man beispielsweise während des ersten Verliebtseins gehört hat, bleiben im Gedächtnis. Scheinbar für immer.
Das Letzte, was bleibt
"Musik ist das Letzte, das uns bleibt", schrieb der britische Neurologe und Schriftsteller Oliver Sacks. Dies bestätige sich besonders bei Menschen mit Demenz, die mit Musik in Berührung kommen. Gleichzeitig kann Musik beruhigen oder auch aktivieren.
"Sie bringt außerdem Abwechslung und Licht ins Leben unserer Bewohner", sagt Heimleiter Manfred Wurm. Das Durchschnittsalter im Haus Rudigier liegt bei 86 Jahren, viele Bewohner würden an Demenz leiden. "Von leicht bis schwer", sagt Margarete Humer, Leiterin des Betreuungs- und Pflegedienstes.
Unter den Damen, die sich heute zur "Musikstunde" versammelt haben, ist auch eine ehemalige Chorleiterin. Sie singt leise, ist textsicher. Egal, was gesungen wird, sie kann es. Ihre Nachbarin singt das, was ihr in den Sinn kommt. Eigene Melodie, eigener Text. Aber mit Begeisterung.
Das Liederbuch, das es für die Bewohner hier gibt, hat nur wenige Seiten und enthält die alten Klassiker wie "Mei Hut, der hat drei Löcher". Die montägliche Singstunde sei mittlerweile zu einem wichtigen Fixpunkt der Woche geworden, sagt Manfred Wurm. "Es ist einfach wunderbar, wenn Angehörige Zeit schenken. Das erhellt die Tage jener Menschen, deren Leben schon sehr klein und still geworden ist."
Foto: OÖN/bar
Beitrag: OÖN Online, 10. Oktober 2020